Die Vogelfamilie der Würger (Laniidae), zu denen auch der Neuntöter (Lanius collurio) zählt, hat mich schon immer fasziniert. Würger!? – Was für eine Bezeichnung für mittelgrosse Singvögel, die noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts als mutige, mordsüchtige Räuber verschrien waren.
Titelbild: Ein Neuntöter-Paar, Foto: Andi Meier
Was hatten wohl Würger zu "würgen"? Schlangen sie vielleicht zu grosse Beute hinunter, die ihnen im Hals stecken blieb, und die sie dann wieder heraus-"würgen" mussten? Oder er-"würgten" sie vielleicht gar ihre Beute? Damals, in den Nachkriegsjahren, fern von Computer und Social Media, malte ich mir als junger Vogelfreund Unerklärliches eben in phantasievollen Überlegungen selbst zurecht.
So falsch lag ich letztlich gar nicht. Würger scheiden die unverdaulichen Reste verzehrter Beutetiere (Chitinteile der Insekten, Federn, Haare, Knochen von Wirbeltieren) tatsächlich in Form von Speiballen (Gewölle) aus, wovon sich die Familien-Bezeichnung auch ableitet. Würgen wurde auch im Sinn von "töten" oder "erdrosseln" verstanden.
Damit sind wir bereits beim ungewöhnlichen Nahrungserwerb von Neuntöter und seinen 32 "Vettern", die zusammen die Familie der Würger bilden. Sie alle sind geschickte Jäger, die gerne auf exponierten Warten auf Beute lauern und sie von dort aus nach wendigen Jagden überfallen.
Anschliessend spiessen sie sie oft auf Stacheln und Dornen oder klemmen sie in Astgabeln ein. Zur Vorratshaltung? Vielleicht. Jedenfalls deutete man dieses Verhalten früher so, weil man annahm, dass die Vögel erst mindestens neun Tiere töten mussten, bevor sie sie verzehren durften.
Hat man heute das Glück, einen Neuntöter beim Aufspiessen und Zerkleinern seiner Beute im Feldstecher oder Fernrohr zu beobachten, kann man einen viel plausibleren Grund für dieses Verhalten feststellen. Mit dem Aufspiessen beabsichtigt er vor allem grössere Tiere wie Käfer, Eidechsen oder gar eine kleine Maus gezielt zu bearbeiten, zum Beispiel in kleinere "Häppchen" zu zerlegen, wenn er zur Brutzeit Jungvögel füttern muss.
Im ausgezeichneten, höchst eindrücklichen knapp siebenminütigen Video von BirdLife Schweiz (www.birdlife.ch), das ich allen Lesern sehr empfehle, kann man ab 1:45 min einem Weibchen zuschauen, wie es bei zwei Versuchen eine verpuppte Raupe aufspiesst.
Für dieses, für Singvögel ungewöhnliche Verhalten, hat der wissenschaftliche Namensgeber eine treffende lateinische Bezeichnung gewählt – er nannte die Gattung "Lanius", was ins Deutsche übersetzt "Fleischer" heisst.
Das Beutespektrum des Neuntöters ist sehr breit. Seine Hauptnahrung besteht aus Wirbellosen, hauptsächlich Grossinsekten und deren Larven. Daneben jagt er auch Kleinsäuger, meist Mäuse, sowie kleine Amphibien und Reptilien. Ausnahmsweise stehen auch Nestlinge und Jungvögel kleinerer Singvogelarten auf seinem Speisezettel; ein negativer Einfluss auf die ent-sprechenden Brutbestände lässt sich jedoch nicht nachweisen.
Zur "Bearbeitung" der Beute ist noch ein anderes interessantes Verhalten erwähnenswert. Die meisten (vielleicht alle?) Würger halten Nahrungsbrocken mit den Zehen eines Fusses "in der Faust". Das ist längst nicht bei allen Vogelarten der Fall. Bei uns in der Schweiz tun dies nebst dem Neuntöter regelmässig auch Meisen und Eulen.
Im vorhin erwähnten Video ist auch gut zu erkennen, dass Neuntöter kräftige, grossköpfige und langschwänzige Vögel mit markantem, gekrümmtem Schnabel und hakenbewehrter Schnabelspitze sind.
Die Geschlechter sind unterschiedlich gefärbt und damit beim Beobachten recht gut zu unterscheiden. Wichtige Bestimmungsmerkmale sind vor allem die auffällige, breite, schwar-ze "Piratenmaske" und die graue Kappe des Männchens sowie die hellbraune Brust- und Flan-kenschuppung samt braunem Scheitel der Weibchen und Jungvögel.
Ferner wird nun auch durch die Mantelfärbung ersichtlich, weshalb der Neuntöter auch Rotrückenwürger genannt wird - eine Bezeichnung, die viel besser zum hübschen Vogel passt und erst noch seine Ver-wandtschaft erklärt.
Neuntöter schätzen reich strukturierte, extensiv bewirtschaftete Landschaften mit einem hohen Anteil an Hecken, einzeln stehenden dorn- oder stachelbewehrten Sträuchern sowie Ast- und Steinhaufen. Sie nutzen aber auch Streuobstgärten, Übergangsbereiche zwischen Kulturland und Wald sowie Rebberge.
Zentrales Element sind Dornenbüsche, die als Jagdwarten und Nest-standort für die Jungenaufzucht unbedingt zur Verfügung stehen müssen.
Dass heute der Neuntöter solche idealen Lebensräume immer seltener findet und seine Bestände seit Jahrzehnten deshalb rückläufig sind, ist auf die fortlaufende Intensivierung der Landwirtschaft mit entsprechender Mechanisierung und Bodenverbesserungsmassnahmen zurückzuführen. Mit der damit verbundenen Ausräumung wertvoller Lebensräume durch Eliminierung kleinräumiger Strukturen, wird dem Neuntöter letztlich nicht nur sein Lebensraum, sondern gleich auch noch seine Nahrungsgrundlage entzogen.
Der Neuntöter hat in unserem Land somit nur eine Überlebenschance, wenn es dem Naturschutz gelingt, seine bestehenden Le-bensräume in den Brutgebieten zu erhalten. Es wäre höchst bedauernswert, wenn ihn das gleiche Schicksal wie seine Schweizer "Vettern" erreichen würde – über sie werde ich weiter unten noch berichten.
Natürlich bei uns, ist man versucht zu sagen, denn schliesslich gilt er als einheimischer Brutvogel. Das ist richtig, aber er ist eben auch ein Langstreckenzieher wie zum Beispiel der Mauersegler. Das heisst, beide Arten verbringen die lange Winterzeit im tropischen und südlichen Afrika und nur die kurze Brutzeit von kaum 4 Monaten in Europa.
Dass Langstreckenzieher also zweimal im Jahr, quasi nur als "Brutgäste" zur Aufzucht ihrer Jungen, eine viele Tausend Kilometer lange, anstrengende, gefährliche Zugstrecke auf sich nehmen, löst bei vielen Vogelfreunden immer wieder Erstaunen und grosse Bewunderung aus.
Neuntöter sind interessanterweise auf zwei sehr unterschiedlichen Zugrouten unterwegs. Auf dem Herbstzug überqueren sie den östlichen Mittelmeerraum und folgen dann dem Niltal und dem Ostafrikanischen Graben in ihre Winterquartiere nach Südost- und Südafrika.
Der Frühjahrszug führt sie erstaunlicherweise auf einer deutlich östlicheren und damit längeren Linie über die Arabische Halbinsel und die Türkei in die europäischen Brutgebiete. Dieses Zugverhalten wird als Schleifenzug im Gegenuhrzeigersinn bezeichnet und mit der nacheiszeitlichen Evolutionsgeschichte der Art erklärt.
Das Verbreitungsgebiet der heute bekannten 33 Würger-Arten erstreckt sich über Eurasien, Afrika und Nordamerika. Vier von ihnen brüteten noch bis Anfang Siebzigerjahre in der Schweiz, nämlich Schwarzstirnwürger, Raubwürger, Rotkopfwürger und Neuntöter. Ausser letzterem sind bei uns inzwischen alle als Brutvögel ausgestorben.
Der von Südosteuropa bis Kasachstan verbreitete Schwarzstirnwürger Lanius minor erreichte bei uns den Westrand seines Brutareals und war deshalb nie häufiger Brutvogel; seine letzte Schweizerbrut wurde 1972 registriert.
Der in Nordeuropa verbreitete Raubwürger Lanius excubitor, mit 21-26 cm Körpergrösse der Grösste der Vier, brütete letztmals 1985 in der Ajoie JU; seither ist er jährlicher Wintergast in kleinerer Zahl.
Und auch vom Rotkopfwürger Lanius senator fehlen leider seit 10 Jahren Bruten in unserem Land.
Obwohl der Neuntöter auf der aktuellen Roten Liste als ungefährdet eingestuft ist, ist seine langfristige Zukunft in unserem Land längst nicht gesichert, vor allem dann, wenn seine fürs Brutgeschäft benötigten Lebensräume weiterhin abnehmen. Unser Vogel des Jahres 2020 braucht deshalb dringend unsere Unterstützung und Förderung. Aus diesem Grund hat ihn BirdLife Schweiz auch als Botschafter für die neue Kampagne "Ökologische Infrastruktur" gewählt.
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Zum Schluss noch das ausführliche Portrait:
Klasse: Vögel (Aves)
Ordnung: Sperlingsvögel (Passeriformes)
Unterordnung: Singvögel (Passeri)
Familie: Würger (Laniidae)
Artname wissenschaftlich: Lanius collurio Linné, 1758
Artname deutsch: Neuntöter
Artname französisch: Pie-grièche écorcheur
Artname italienisch: Averla piccola
Artname rätoromanisch: pitgaspina brin
Artname spanisch: Alcaudón dorsirrojo
Artname englisch: Red-backed Shrike
Artname synonym: Rotrückenwürger
Artname volkstümlich: "Dorndreher", "Hagspatz", "Hagägerscht", "Schäckerdickkopf"
Körpergrösse: 16-18 cm
Flügelspannweite: 24-27 cm
Gewicht: 21-40 g
Geschlechter: Männchen und Weibchen sind unterschiedlich gefärbt und am bes-ten durch die Gesichtsmaske zu unterscheiden. Sie ist bei den Männchen breit, kräftig schwarz und reicht bis zur Stirn, bei den Weibchen braun und nur hinter dem Auge deutlich sichtbar, und bei Jungvögeln ist sie hellbraun und oft nur angedeutet
Verbreitung Europa: Die Brutgebiete liegen in Eurasien und erstrecken sich von Europa über die Türkei bis weit ins Westsibirische Tiefland. Nicht besiedelt sind Mittel- und Südspanien, England ausser dem Süden und Nordskandinavien
Verbreitung Schweiz: Brutvogel in der ganzen Schweiz. 90% aller Paare brüten unter 1400 m. Das Mittelland ist nur spärlich besiedelt; höhere Dichten werden in den inneralpinen Trockentälern sowie am Jurasüdfuss und im Klettgau erreicht
Lebensraum: Halboffene, reich strukturierte Landschaften mit Hecken, einzelnstehenden dorn- oder stachelbewehrten Sträuchern (Weissdorn, Schwarzdorn, Brombeere, Heckenrose), die als Neststandort und Jagdwarte dienen, sowie extensiv genutzten Weiden mit einer hohen Dichte an Gliederfüssern (Insekten, Spinnentieren, Tausendfüssern). Streuobstgärten, verbuschte Brachen oder Rebberge werden eher selten besiedelt
Zugverhalten: Langstreckenzieher (Schleifenzug im Gegenuhrzeigersinn), Nacht-zieher
Frühjahrszug: Mai bis Anfang Juni über Griechenland, Ägypten
Herbstzug: Ende Juli bis Anfang Oktober über Arabische Halbin-sel, Türkei
Zugstrecken: 6'000-12'000 km
Winterquartier: Trockensavannen des Kalahari- und Limpopobeckens (Simbabwe, Botswana, Südafrika)
Nahrung: Insekten (Hautflügler, Käfer, Heuschrecken, Grillen), Spinnen, Tausendfüsser, Regenwürmer, selten Kleinsäuger und Reptilien, ausnahmsweise Kleinvögel und Vogelnestlinge; im Sommer und Herbst Beeren. Spiesst seine Beute zur Bearbeitung oder als Vorrat in Ast-gabeln oder auf Dornen und Stacheln
Neststandort: Bevorzugt in dichtem Dornen- oder Stacheldickicht
Nest: Massiger Napf aus Zweigen, krautigen Stängeln und Moos, mit fei-nem Pflanzenmaterial, Haaren und Daunen ausgekleidet. Den Roh-bau besorgt das Männchen, den Endausbau das Weibchen. Baudauer 4-6 Tage.
Gelegegrösse: 4-7 Eier
Brutzeit: Mitte März bis Ende Juni
Brutdauer: 13-16 Tage. Das Weibchen brütet und wird vom Männchen gefüt-tert
Nestlinge: Nesthocker, nackt
Nestlingszeit: Die Nestlinge werden von beiden Eltern versorgt, aber nur vom Weibchen gehudert (gewärmt). Mit 13-16 Tagen verlassen sie das Nest, ab 26 Tagen beginnen sie mit ersten Jagdversuchen, und ab 36 Tagen sind sie selbständig
Jahresbruten: 1. Zweitbruten sind selten
Alter: Ältester beringter Vogel knapp 8 Jahre; in Gefangenschaft 10 Jahre
Bestand Europa: 7,4-14,3 Millionen Brutpaare (2015)
Bestand Schweiz: 10'000-15'000 Brutpaare (2013-2016)
Gefährdung: Gilt als nicht gefährdet (Rote Liste Kategorie LC = least concern). Aber Lebensraumveränderungen in den Brutgebieten durch Intensivlandwirtschaft, Rückgang von Grossinsekten, extreme Wetterlagen zur Brutzeit sowie Trockenheit in den Rast- und Überwinterungsgebieten könnten für die grösseren festgestellten Bestandesschwankungen verantwortlich sein
Du findest den Bericht über den Neuntöter hier zum Download.
Text: Peter Jascur: Peter Jascur ist der Kopf hinter den "Ornithologischen Steckbriefen". Dieses ausführliche und doch handliche Taschenlexikon stellt die 234 häufigsten in der Schweiz beobachtbaren Vogelarten vor. In 2-seitigen Portraits vermittelt es eine Fülle von Informationen zu Bestimmungsmerkmalen, Verbreitung, Bestand, Zugstrategie, Gefährdung, Nahrung, Stimme, Verhalten und Fortpflanzung jeder beschriebenen Art.